Ein Sonntagmorgen mit Onkel Virnich

Anfang der 60er Jahre wohnte ich mit meinen Eltern auf der Venloer Strasse, gleich gegenüber vom Stadtgarten. Wir teilten uns die Wohnung mit dem Ehepaar Virnich in einer Art Not-WG, denn der Wiederaufbau hielt nicht Schritt mit dem Badarf. Herr Virnich war ein entzückender Rentner um die sechzig, rundlich, nicht besonders gross und von seinem brünetten Haar war ihm nur ein Kränzlein geblieben. Seine Frau war ein äusserst beeindruckende Erscheinung, eine echte Ubierin, kräftig, stramme Beine, schmale Hüften, wenig Taille, viel Oberweite und üppiges, dunkles Haar, meist rötlich getönt. Sie war Platzanweiserin im Ufa-Palast.

Mein Vater arbeitete als Schriftsetzer beim Kölner Stadtanzeiger und meine Mutter kellnerte an mehreren Abenden der Woche im Kölner Messe-Restaurant, um tagsüber Zeit für mich zu haben.

Und Sonntags war der grosse Ausschlaftag für meine Eltern und natürlich auch für Frau Virnich. Ich hatte strikte Anweisung, mich leise zu beschäftigen, bis die Erwachsenen ausgeschlafen hatten. Da ich ein folgsames kleines Mädchen war, versuchte ich, die Langschläfer nicht zu stören und mich nebenbei noch ein wenig nützlich zu machen. So schrubbte ich einmal den tags zuvor gebohnerten Linoleumboden der Küche mit reichlich Ata. Meine Eltern überraschten mich mitten in der Arbeit, als sie endlich aufgestanden waren. Die erwartete Belobigung blieb aus. Meine Mutter wirkte beinahe verzweifelt, hatte ich doch ihr Werk vom Vortag zum grössten Teil vernichtet. Von „matschen“ und „Sauerei wegmachen“ war die Rede. Auch bei einem weiteren Versuch, mich nützlich zu machen, wurde ich mitten in der Arbeit unterbrochen. Ich putzte Vaters neue, hellschweinsledernen Sommerschuhe mit schwarzer Schuhcreme und hatte gerade den einen fertig, als meine Eltern dazukamen.

Mein Vater allerdings fand die Geschichten immerhin so unterhaltsam, dass er sie bei diversen Familienfeiern mit grossem Heiterkeitserfolg zum Besten gab, während ich verlegen die beängstigen Lachsalven über mich ergehen ließ.

Meinen Bemühungen, mich möglichst lautlos, sinnvoll zu beschäftigen, wurden also gewisse Beschränkngen auferlegt und so blieb mir nur das Spielen, was aber alleine wenig Spaß macht, zumal einem so geselligen Wesen wie mir. Aber da war glücklicherweise auch noch Onkel Virnich, der ähnliche Auflagen zu erfüllen hatte wie ich, zumindest was die Lautstärke betraf. Im „sich nützlich machen“ war er natürlich geübter als ich.

Manchen Sonntagmorgen war ich zu Besuch in der nachbarlichen Wohnküche und ließ mir ein Marmeladenbrot von Onkel Virnich schmieren. Ich beaufsichtigte seine Arbeit, auf dem Küchentisch sitzend, und erklärte ihm, daß man die Marmelade bis an den Rand der Brotscheibe verteilen muss, was er auch geduldig tat.

Auf dem Tisch sitzen und sich bedienen lassen, ja das was!

Ich war sehr kreativ, was die Benutzung von Möbeln anging. Von unserem Küchenschrank z.B. bin ich mit Begeisterung auf die gegenüber stehende Couch gesprungen. Dieser Zweimeterflug wurde mir aber sehr schnell verboten, weil bei meinem tollkühnen Absprung das Geschirr im Schrank schepperte, und bei der gekonnten Landung die Couch schwer ächzte, so daß meine Mutter Schäden an ihrem Inventar befürchtete. Wegen solcher Befürchtungen durfte mein Vater auch nicht mehr auf den Händen durch die Küche laufen – schade!

An einem jener Sonntage, ich saß mal wieder mit meinem vorschriftsmässig geschmierten Marmeladenbrot auf Virnichs Küchentisch, schlug ich vor „Krankenhaus“ zu spielen. Das war sehr lustig. Onkel Virnich behandelte meine „gebrochenen Arme und Beine“ mit Tisch- und Kochbesteck aus der Küchenschublade. Geröntgt wurde mit dem Schneebesen, geschient mit dem Kochlöffel und bald hatten wir alle Gliedmaßen wieder geheilt. Dann könnten wir noch den Bauch operieren, schlug ich vor und hob mein Nachthemdchen hoch. Zu meiner Verwunderung war Onkel Virnich sehr erschrocken und brachte hastig mein Nachthemd wieder an Ort und Stelle. Ich verstand seine merkwürdige Reaktion überhaupt nicht und bestand auf meiner „Operation“, genau wie bei den Armen und Beinen auch. Mir war doch nicht klar, in welche Lage ich Herrn Virnich brachte, er allein mit dem kleinen Nachbarsmädchen, das mit entblößtem Bauch auf seinem Küchentisch lag und auf einer Operation bestand. Die einzige Möglichkeit, mich davon abzuhalten, immer wieder mein Nachthemd zu lüpfen, war, die gewünschte Behandlung durchzuführen, was er auch in höchster Eile und mit wenig Begeisterung tat, um mich dann vor die Tür zu setzen mit der Begründung, er hätte nun keine Zeit mehr zum Spielen.